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Travesta - Forum |
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Von Lilxxxxxxxxx 985 Beiträge bisher
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re: Gedicht des Tages
Lena, ich weiss nicht wann das geschrieben wurde, aber es ist befremdlich aktuell.
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19.11.2022 um 14:18 |
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Von Lilxxxxxxxxx 985 Beiträge bisher
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re: Gedicht des Tages
Abendlied
Auf den Bergen liegt der Schatten,
und der See ist dunkelgrün.
Von den Sechs-Mark-fünfzig-Platten
singt Maria Ivogün …
Horch, die schöne Melodie:
"Tralahü – lahü – lahi!"
Dumpf tönts von der Kegelbahn – – –
… Was hast du am Tag getan –?
Hast du einen Brief geschrieben?
Hast du im Büro gepennt?
Hast du Unkeuschheit getrieben?
Nahmst du 10½ Prozent
als Bankier der Industrie …
Tralahü – lahü – lahi –
Singt sie nicht wie Marzipan!
… Was hast du am Tag getan?
Hast des Staates du im stillen
dankbar-demutsvoll gedacht?
Hast du Margot Abführpillen,
die sie wollte, mitgebracht?
Dachtest du, wie Hitler schrie …
Tralahü – lahü – lahi –
mit dem bierigen Organ – – –
Was hast du am Tag getan?
Morgen, denkst du, bin ich schlauer.
Morgen fang ichs richtig an.
Jeder – Städter oder Bauer –
ist zur Nacht ein kluger Mann.
Aber welche Ironie –
Tralahü – lahü – lahi –:
Morgen leben alle Leute
egalweg genau wie heute.
Theobald Tiger
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19.11.2022 um 19:09 |
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Von Lilxxxxxxxxx 985 Beiträge bisher
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re: Gedicht des Tages
Diese Häuser
Diese Häuser werden länger leben als du.
Du hast geglaubt, für dich seien sie gebaut.
Aber sie waren vorher da.
Du hast geglaubt: du wirst sie überleben.
Sie werden aber noch nach dir da sein.
Diese Häuser werden länger leben als du.
Wenn du durch die Stadt trollst
mit einem Papierpacken, den du gekauft hast, du Tropf –
weil das dein Leben ist:
acht Stunden herumzupetern,
um eine zu genießen,
und die verregnet …
wenn du durch die Stadt trottest,
dann sehn sie dich an,
die Herren Häuser,
und grinsen mit breiten Türmäulern.
Sie werden länger leben als du.
Wenn du von jener Dame kommst,
bei der du arbeiten läßt,
(oder sie bei dir – so genau ist das nicht zu unterscheiden),
dann stehn diese Dinger herum,
die Häuser;
unzählige Male hast du deine Liebe an sie geklebt,
sie geben sie schwach wieder.
Sie sind kalt.
Da stehn die Häuser,
und lassen in sich hausen,
und stehn wie die Mauern
– natürlich wie die Mauern –
und werden länger leben als du.
Wenn du zum Arzt gehst,
ob … ob nicht … vielleicht …
die Angst im Wartezimmer,
bevor du herankommst!
Nie wieder! schwörst du dir leise –
es ist dein dreiundachtzigster Schwur in dieser Beziehung …
wenn du zum Arzt läufst,
für nichts empfänglich, mit einer einzigen fixen Idee im Kopf:
dann häusern sie da um dich herum
und
– da kannst du machen, was du willst –
sie werden länger leben als du.
Und noch,
wenn sie dich zu Grabe b.l.a.s.e.n,
nein, heute b.l.a.s.e.n sie ja nicht mehr …
wenn sie dich in einem schwarz angestrichenen
Wagen nach draußen fahren,
im Auto,
natürlich!
weil du es doch so eilig hast!
Denke: du könntest etwas versäumen!
Wenn sie dich einpflanzen
oder verbrennen,
so du 4 Mark 85 Mitgliedsbeitrag gezahlt hast
und ein Königlich Preußischer Freidenker bist –
wenn sie dich dahin expedieren,
wohin du, Sache Gewordener, dann gehörst,
weil du nun den andern tragisch-lästig fällst –:
dann stehn da die Häuser,
die deine Dummheiten seit deiner Geburt mit angesehen haben,
und sind länger Häuser, als du Mensch gewesen bist,
und werden länger leben
als du.
Kaspar Hauser
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20.11.2022 um 17:23 |
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Von 6hexxxxx 1134 Beiträge bisher
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re: Gedicht des Tages
Schillers Glocke kennt wahrscheinlich jeder.
Der erzgebirgische Mundartdichter Arthur Schramm hat das Gedicht neu interpretiert und eine Kurzfassung geschaffen:
Loch gebuddelt, Bronze rinn,
fertig ist die Glocke,
bimm, bimm, bimm, bimm!
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21.11.2022 um 15:34 |
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